Weniger ist oft mehr

20 Jahre spielzeugfreie Zeit in Varenseller KiTa St. Benediktus

Die Kinder Max, Max, Jona, Matti, Leo, Jonas und Pauline (versteckt im Kletterprozess Ella) haben sich mit einer dicken Matte

Die Kinder Max, Max, Jona, Matti, Leo, Jonas und Pauline (versteckt im Kletterprozess Ella) haben sich mit einer dicken Matte aus der Turnhalle einen Sprungturm gebaut und springen einfach mal den ganzen Vormittag in Gruppen oder alleine, vorwärts, rückwärts oder auch schon mit einer Rolle hinunter. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. (Foto: privat)

 

 

Varensell. Ein paar Wäscheklammern, Decken, Kissen, Tücher, Tannenzapfen, ein ausgedienter Karton und dicke Matten- mehr benötigen Kinder nicht, um kreativ spielen zu können. Diese Erfahrung macht die Kindertageseinrichtung St. Benediktus im Rietberger Stadtteil Varensell nunmehr seit 20 Jahren in einer jährlichen dreimonatigen spielzeugfreien Zeit, die sie „Abenteuerland“ nennt. Eine Zeit, in der die Kinder unglaublich viel fürs Leben lernen. Sie reden viel miteinander, tauschen sich aus, lernen Gefühle auszudrücken und können ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Die spielzeugfreie Zeit ist eine wichtige Zeit in St. Benediktus, weil das Team die Kinder noch mal ganz anders kennenlernt, Schwächen erkennt aber auch Potenziale und selber auch dabei lernt, sich nicht einzumischen oder Ideengeber zu werden.

Was in St. Benediktus in Zusammenarbeit mit der Suchtstelle der Caritas entstanden ist, ist inzwischen ein Erfolgsmodell geworden.  Neun Kindertageseinrichtungen im Kreis Gütersloh haben das Projekt ebenfalls eingeführt und stehen in einem Netzwerk mittlerweile im regen Austausch miteinander. „Man muss das Rad nicht neu erfinden“, meint Diana Kochtokrax und gerade die vielen Bestandteile des Konzeptes bedürfen vor der ersten Umsetzung viel Auseinandersetzung und auch Beratung kann sie sich selbst an ihre erste spielzeugfreie Zeit erinnern. Gerne gibt sie ihre Erfahrungen weiter und freut sich, wenn dieses Modell auch woanders Früchte trägt, denn sie ist sich sicher: „Was die Kinder in dieser Zeit erfahren, stärkt sie für ihr weiteres Leben, für die Schule und für viele andere Herausforderungen.“

Als Diana Kochtokrax in St. Benediktus ihr Anerkennungsjahr machte, wollte sie die spielzeugfreie Zeit als „ihr“ Projekt in die Tat umsetzten. In einer anderen KiTa hatte sie das Projekt entdeckt und war begeistert.

So mal eben eine so lange Zeit ohne die geliebten Spiele, Autos, Puppen und Bücher einzuführen, funktionierte dann doch nicht. Zwei Jahre hat es gedauert, bis man das in den 1990er Jahren in Bayern entstandene Projekt so umsetzen konnte, dass es für alle Beteiligten Anfang 2005 zum ersten Mal gut war. Die Eltern wurden im Rahmen einer Infoveranstaltung aufgeklärt und haben damals noch abgestimmt, ob sie sich einverstanden erklären. Eine jährliche Infoveranstaltung gibt es heute noch, die Abstimmung allerdings nicht, da das Projekt mittlerweile fester Bestandteil des Konzeptes ist.

„Wir sind nicht gegen Spielzeug. Im Gegenteil wir lieben tolle Spiele, Bücher, Bausteine“, erklärt Kochtokrax. Doch diese drei Monate gilt aus Überzeugung das Motto: „Weniger ist mehr“ und lernen zu verzichten ist ein wichtiger Baustein in der Entwicklung.

Jedes Jahr im Januar werden die Kinder langsam auf den Start der Zeit ohne vorgefertigtes Spielzeug vorbereitet. Sie bekommen Post von Hartmut aus dem Abenteuerland. Eine Woche lang wird dann täglich etwas Spielzeug ausgeräumt. Die Kinder entscheiden mit, bis am Ende nichts mehr da ist, außer den natürlichen Materialien und das Inventar. Dass die Zeit über drei Monate geht ist wichtig, weil Kinder so lange benötigen, um das Ganze zu realisieren und eine nachhaltige Wirkung erzielt wird.

„Schön ist es immer zu sehen, wie die Kinder aus ihren kleinen Grüppchen ausbrechen, Jungen und Mädchen viel mehr zusammenspielen, mutiger werden, Rollenspiele erfinden und alte Spiele neu entdecken“, erzählt die Leiterin. Konstant bleiben das Begrüßungsritual und das gemeinsame Mittagsessen, die Räume, die Erzieherinnen und das Inventar. Das gebe den Kindern Sicherheit, betont sie.

Die Kinder seien in dieser Zeit sehr geerdet, offen, wissbegieriger, könnten mit Konflikten besser umgehen, seien nicht so überflutet, lösungsorientierter und hätten einen Riesenhunger, weil sie den ganzen Tag in Bewegung seien, erläutert Kochtokrax. „Turnstunden brauchen wir in dieser Zeit nicht“, fügt sie hinzu.

Einmal am Tag setzen sich die Kinder einer Gruppe mit ihren Erzieherinnen zusammen und besprechen den Vormittag. Jedes Kind erzählt, was es gemacht hat und sie können sich gemeinsam über das Spiel der anderen freuen oder es werden entstandene Konflikte zusammen gelöst.

Der Aspekt der Suchtvorbeugung, den die Caritas begleitet, ist ein wichtiges Fundament des Projektes. „Natürlich nehmen wir nicht an, dass unsere Kindergartenkinder viele Süchte mitbringen, auf die wir konzeptionell reagieren müssten“, meint die Kita-Leiterin. Allerdings sei der „neue“ Alltag mit Herausforderungen bestückt, denn letztendlich nimmt man den Kindern etwas, was sonst zu ihrem Tag dazugehört. Die Kinder seien aufgefordert Langeweile auszuhalten und Ideen dazu zu entwickeln, eigene Entscheidungen zu treffen, Frust genauso auszuhalten wie Freude und Spaß, Gemeinschaft zu erleben und Prozesse wie Unterstützung, Abstimmung und Kompromisse erfahren. Ablenkungen und das Überdecken von herausfordernden Gefühlen die aufkommen können, gelingt nicht so einfach. Die Gefühle der Kinder werden in diesen drei Monaten viel klarer ersichtlich und können dann von den Bezugspartnern wunderbar begleitet werden, bis das Kind selbst eine Lösung aus der Situation gefunden hat.

„Und das ist das Beste an dieser Zeit, die Kolleginnen haben die Zeit dafür“, freut sich Diana Kochtokrax. Im Heranwachsen bereits zu lernen, dass man in der Lage ist Auswege für Frust, Angst und Trauer zu finden, kann unterstützen, im Erwachsenenalter nicht zu Suchtmittel greifen zu müssen, sondern auf diese Kompetenzen zurückzugreifen.

Wenn dann das Abenteuerland zum Ende April weiterreist, wird nach und nach alles zurückgebaut und auch dabei entscheiden die Kinder, denn diese Abstimmungen sind eine wunderbare Praxis, um die Kinder demokratiefähig werden zu lassen. „Manches Spielzeug bleibt dabei aber auch erst einmal im Keller“, weiß die Erzieherin aus Erfahrung, so zeigen uns die Kinder ganz genau, was sie wirklich im Alltag benötigen.